03.03.2021

Angela Merkel: Vom Neuland zum Digitalland

Bundesregierung/DenzelFoto: Bundesregierung/Denzel

Acht Jahre ist es her, dass ein Ausspruch der Kanzlerin für Stirnrunzeln sorgte. „Das Internet ist für uns alle Neuland, und es ermöglicht auch Feinden und Gegnern unserer demokratischen Grundordnung natürlich, mit völlig neuen Möglichkeiten und völlig neuen Herangehensweisen unsere Art zu leben in Gefahr zu bringen.“ Recht hatte sie mit ihrer Einschätzung, dass das Internet von Kriminellen und Terroristen für ihre Belange genutzt werden, um auch der Demokratie zu schaden. Mit dem Neuland allerdings hatte sie einen unglücklichen Begriff gewählt, der ihr bis heute noch nachhängt. Schwamm drüber. Alter Tabak. Schnee von gestern.

Um so erfreulicher, dass sie sich mit drei ihrer Kolleginnen aus anderen EU-Regierungen zusammengetan hat und der EU-Kommissionspräsident Ursula von der Leyen eine offene Warnung zum Digitalstandort Europa geschrieben haben. Die EU ist abhängig von Digitalprodukten aus USA, Südkorea und China. Die Musik spielt nicht in Europa. Insbesondere während den Corona-Lockdowns sind die Schwächen für alle sichtbar. Alleine das Thema Homeschooling und das Verbot einiger Landesregierungen, Microsoft Teams als Videoübertragungs-Software einzusetzen, offenbart das Dilemma. Eigentlich untersagt die DS-GVO die Nutzung von jeglichen Clouddiensten insbesondere der US-amerikanischen Anbieter wie Zoom, Microsoft 365, Dropbox, Apple iCloud, GoogleDrive, AmazonWebService (AWS) etc. Aber die Rechner der Schulen laufen ohnehin auf Microsoft Windows in der Cloud. Einzige Alternativen sind Open-Source-Plattformen wie Ubuntu. So verfahren die Situation ist, die Abhängigkeit ist nicht von heute auf morgen zu beseitigen. Beginnen wir jetzt, dann haben wir in 5-10 Jahren Alternativen entwickelt.

Ich habe mich in meinem Blog dazu entschieden, den Brief hier vollständig abzudrucken, um den Charakter nicht zu verfälschen, los geht’s:

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Ursula,

die Digitalisierung ist entscheidend für die wirtschaftliche Erholung in Europa – für Wohlstand, Sicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und das Wohlergehen unserer Gesellschaften. Wir haben in den vergangenen Monaten in Europa mit vereinten Kräften die Aufbau- und Resilienzfazilität verabschiedet, um damit zügig umfangreiche, zusätzliche Investitionen in digitale Projekte zu ermöglichen, wir haben die Zusammenarbeit in der Digitalpolitik gestärkt und ein gemeinsames Vorgehen in der Datenpolitik, bei Künstlicher Intelligenz und der Plattformregulierung vorangebracht.

Gleichzeitig sind jedoch die Abhängigkeiten und Schwächen der europäischen digitalen Kapazitäten, Fähigkeiten und Technologien deutlicher zutage getreten. Digitale Wertschöpfung und digitale Innovationen finden in erheblichem Umfang außerhalb Europas statt. Daten sind die neue Währung, aber sie werden überwiegend außerhalb Europas gesammelt und gespeichert. Und demokratische Grundwerte stehen im digitalen Zeitalter weltweit unter erheblichem Druck.

Es ist daher an der Zeit, dass Europa seine digitale Souveränität stärkt. Wir müssen den digitalen Binnenmarkt in all seinen Dimensionen stärken, damit Innovationen gedeihen und Daten frei fließen können. Wir müssen Wettbewerb und Marktzugang in einer datengetriebenen Welt wirksam sicherstellen. Kritische Infrastrukturen und Technologien müssen resilient und sicher werden. Es ist an der Zeit, dass Regierungen bei der Digitalisierung voranschreiten, um Vertrauen und digitale Innovation zu fördern.

Wir wollen unsere Kapazitäten und Fähigkeiten in Bereichen ausbauen, in denen wir stärker selbstbestimmt sein wollen – zusammen mit demokratischen Partnern in der ganzen Welt und auf der Basis eines starken transatlantischen Verhältnisses. Gleichzeitig wollen wir die wechselseitige Zusammenarbeit stärken und Synergien ausbauen.

Digitale Souveränität heißt für uns, auf unseren Stärken aufzubauen und unsere strategischen Schwächen zu reduzieren, nicht andere auszugrenzen oder protektionistisch zu handeln. Wir sind Teil einer globalen Welt mit globalen Lieferketten, die wir zum Wohle aller gestalten wollen. Wir bekennen uns zu offenen Märkten und freiem, fairem und regelbasiertem Handel. Das ist es, was digitale Souveränität für uns ausmacht.

Wir wollen daher, dass die Europäische Union sich an die Spitze des digitalen Wandels setzt, so wie wir es im Europäischen Rat im Oktober 2020 gefordert haben. Wir sind überzeugt, dass Europa seine digitale Transformation neu beleben und durch eine selbstbestimmte, offene Digitalpolitik flankieren muss, mit digitaler Souveränität als Leitmotiv. Eine solche Digitalpolitik umfasst gleichermaßen die Belange der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Staats, und sie begünstigt den Übergang zu einer grünen Wirtschaft.

Wir appellieren daher an die Europäische Kommission, die erforderlichen Initiativen zu ergreifen, um die digitale Souveränität der Europäischen Union zu stärken. Nach unserer Überzeugung sind dazu drei Schritte nötig:

In einem ersten Schritt muss die Europäische Kommission kritische Technologien und Systeme sowie strategische Sektoren ermitteln. Wir brauchen Klarheit darüber, worin Europas Stärken liegen und wo möglicherweise strategische Schwächen oder risikoreiche Abhängigkeiten bestehen, die zu Versorgungsengpässen und Cybersicherheitsrisiken führen können. Von entscheidender Bedeutung ist dabei eine gründliche Analyse, bei der globale Herausforderungen, Sicherheitsimplikationen, Ressourcenmangel und Marktstrukturen zu berücksichtigen sind.

Dieser Prozess muss transparent sein, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und der Wirtschaft sicherzustellen. Er muss langfristig angelegt sein, weil der digitale Wandel dazu führen kann, dass der Fokus sich in unseren Gesellschaften, unseren Volkswirtschaften, bei unserer Sicherheit und für unsere Bürgerinnen und Bürger verändert: Einige Bereiche werden stärker in den Vordergrund treten, während andere an Bedeutung verlieren werden.

Davon sollte sich auch die Europäische Kommission in ihrem Vorschlag für eine digitale Dekade mit Zielen für 2030 und einem Monitoring leiten lassen, wie wir es im Oktober 2020 im Europäischen Rat erbeten haben.

In einem zweiten Schritt muss die Europäische Union ihre Politik in Bezug auf kritische Technologien und Systeme sowie strategische Sektoren verstärken und präzisieren. Um Abhängigkeiten zu vermeiden, müssen offene Märkte und Lieferketten gewährleistet sein.

Ist dies nicht möglich, sollten wechselseitige Abhängigkeiten geschaffen werden (also keine einseitigen Abhängigkeiten von Monopolen oder Ländern). Ist auch dies nicht möglich, so können als letzte Option europäische Kapazitäten und Fähigkeiten aktiv gefördert und ausgeweitet werden.

In diesem Sinne muss das politische Instrumentarium für die Digitalpolitik auf EU-Ebene und national differenzierte politische Maßnahmen für verschiedene Bereiche enthalten: Es wird entscheidend sein, auf allen Dimensionen unseres Binnenmarkts (Gesundheit, Energie, Transport usw.) aufzubauen.

Wir müssen die gesamte Palette der Politik ausschöpfen und Instrumente aus der Industrie-, Handels- und Wettbewerbspolitik sowie der Forschungs- und Innovationspolitik mit langfristigen Finanzierungsinstrumenten und den Regeln für „Wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI)“ kombinieren.

Wir müssen den digitalen Binnenmarkt ausbauen, um Wachstum von Unternehmen zu erleichtern sowie Innovation und Investitionen zu fördern. Wir müssen Fertigkeiten und Kompetenzen über die gesamte Gesellschaft hinweg ausbauen, mit einem Fokus auf strategische Sektoren. Schließlich muss auch die Digitalisierung von Staat und Verwaltung ein wichtiger Innovationsmotor sein, der Vertrauen für die Erprobung, Umsetzung und Verbreitung von Innovationen schafft.

Zu all diesem sollte die Kommission neue Initiativen vorschlagen und laufende Initiativen verstärken. Wir brauchen solide Rahmenbedingungen für eine innovative, verantwortungsvolle und sichere Digitalwirtschaft mit einem EU-weiten Ökosystem für digitale Identitäten, einem Rechtsrahmen für Künstliche Intelligenz, Exzellenz bei Quantencomputing, EU-basierten Cloud-Lösungen und einem europäischen Vorgehen zur Förderung der Virtualisierung von Kommunikationsnetzen und neuer Technologien (openRAN).

Überdies sprechen wir uns für eine neue globale Initiative zur Plattformregulierung aus, die auf unserer internen Diskussion über das Gesetz über digitale Dienstleistungen („Digital Services Act“) und das Gesetz über digitale Märkte („Digital Markets Act“) in der EU aufbauen sollte.

Die Europäische Kommission sollte auf dieser Grundlage einen Aktionsplan für mehr digitale Souveränität erarbeiten, möglichst als Teil ihrer für März 2021 angekündigten Initiative für die europäische digitale Dekade. Um eine Verfestigung kritischer Abhängigkeiten zu verhindern, sollte darin ein Set von Sofortmaßnahmen enthalten sein, das es Europa erlaubt, in kritischen Bereichen seine digitale Souveränität zu stärken.

Der dritte Schritt sollte ein Monitoringsystem in der EU sein – die rasante Entwicklung in der digitalen Welt macht dies erforderlich. Dieses Monitoring sollte dauerhaft und regelmäßig erfolgen und auf einer breiten gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Grundlage stehen. Damit können wir digitale Entwicklungen voraussehen, unsere Stärken und Schwächen erkennen und entsprechend konkrete Maßnahmen und Instrumente bestimmen. Das Monitoring sollte Innovation und Entwicklung unterstützen, damit Europa souverän, sicher und wettbewerbsfähig bleibt und bei der Entwicklung digitaler Technologien vorangeht.

Die digitale Transformation ist eine der größten Chancen und Herausforderungen für Europas Zukunft. Sie muss den Menschen, unseren Gesellschaften und unseren Volkswirtschaften dienen.
Als Europäerinnen und Europäer haben wir den Anspruch, unsere demokratischen Werte und Regeln auch im digitalen Zeitalter aufrechtzuerhalten – in Europa und in der Welt.

Gleichzeitig wollen wir an der digitalen Wertschöpfung teilhaben, um künftigen Wohlstand in Europa zu sichern und unsere Gesellschaften in das digitale Zeitalter zu führen. Das wird nur gelingen, wenn wir kontinuierlich auf dem Pfad der digitalen Souveränität voranschreiten – selbstbestimmt und offen.

Wir rufen Sie dazu auf, dieses gemeinsame Vorhaben mit dem ganzen politischen Gewicht der Europäischen Kommission zu unterstützen.

Mit freundlichen Grüßen

Angela Merkel, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland
Mette Frederiksen, Ministerpräsidentin des Königreichs Dänemark
Sanna Marin, Ministerpräsidentin der Republik Finnland
Kaja Kallas, Ministerpräsidentin der Republik Estland

Quelle des Briefes: handelsblatt.com

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