Das Buch „Influencer – Die Ideologie der Werbekörper“ führt gerade die Bestsellerlisten u. a. im SPIEGEL, Focus, Stern und Börsenblatt an. Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt analysieren und sezieren dort mit einigem Humor, Sarkasmus und Polemik das Phänomen des Influencertums. Sie nutzen ihre Ausführungen als Abrechnung und verbinden es mit einer allgemeinen Kapitalismuskritik. Dazu wird der Berufsstand aus einer marxistischen Anschauung heraus analysiert. – Ein interessanter und für mich neuer Ansatz für die Medienrezeption!
Symptomatische Sozialfiguren
Für sie sind die Influencer „symptomatische Sozialfiguren“ unserer Zeit. In der Abstiegsgesellschaft scheinen ihrer Meinung nach noch einmal Aufstiegsträume wahr zu werden, der Spätkapitalismus hübsche sein Gesicht mit Filtern und Photoshop auf, mit einer revolutionären Form der Werbung komplettieren Instagrammer und Youtuber das Geschäftsmodell des kommerziellen Internet. Kinder und Jugendliche filmten sich beim Schminken, auf Reisen oder beim Sport und teilten ihre Tipps über soziale Medien mit ihren Fans. Dabei platzierten sie geschickt Produkthinweise und verdienten so ihren Lebensunterhalt – oder gar ein Vermögen.
Rückfall in den Konservatismus
Bei aller ausgestellten Modernität, so Nymoen und Schmitt, beeinflussten die Influencer jedoch noch in einer weiteren Hinsicht den Zeitgeist: Indem sie rückwärtsgewandte Rollenbilder, Konsumismus und rigide Körpernormen propagierten, leisteten sie einem „konservativen Backlash“ Vorschub. Gewagte Thesen der beiden Autoren, denn sieht die schöne, bunte Social-Media-Welt nicht ganz anders aus?! Gibt es neben Fitness- und Schminkvideos nicht viel mehr Breite und Tiefe?!
Falsches Bild von Influencern
„Diverse“ Menschen, die ihre Lebensgeschichten erzählen. Junge Anwälte, die Rechtstipps für den Alltag geben. Hacks, Tutorials und „How-tos“ (Anleitungen) für jede Lebenssituation und -lage. Unterschiedliche Formate werden von den jungen Leuten produziert: Checklisten, Wissensformate, Politisches und – ja auch – Verschwörungstheorien, Künstlerisches, Interkulturelles, Glossare, Statistiken, hinter den Kulissen, Kurioses und natürlich Lustiges aus der Menschen- und Tierwelt. Dafür steht ein riesiges Repertoire an Videofiltern und Schnitteffekten in den Apps bereit.
Das Leben in der eigenen Bubble
Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt huldigen die gute alte Werbewelt über Clementine von Ariel, von Tilly von Palmolive bis zum Persil-Mann und sehnen sich die gute alte Qualität der öffentlich-rechtlichen Fernsehproduktion zurück. „Damals“ sei ein Crewteam zusammengesetzt gewesen aus Kameramann, Tontechniker, Moderator, Schnittassisenten und Fahrer(!), das heute oft nur noch aus wenigen bestünde, bemängeln die Autoren die Lage. Die meisten Videos, die auf Instagram Reels, TikTok und Youtube zu sehen sind, haben meines Erachtens aber eine viel höhere Qualität als die Werbevideos und öffentlich-rechtlichen Filmproduktionen der 1980er- und 1990er-Jahre, inhaltlich und filmtechnisch.
Bedienung alter Klischees
Offensichtlich leben die beiden in einer anderen Bubble als ich. Des Weiteren bedienen sie eine weitere Bubble von Social-Media-Verweigerern: Die linksintellektuelle Bildungselite, welche genau dieses Klischee des Influencertums vermittelt haben will und regelmäßig im Feuilleton ihrer gedruckten Tages- oder Wochenzeitung vermittelt bekommt: dumm, oberflächlich und Konsum-huldigend. Das ist aber keineswegs der Fall! Influencer und Creator verfügen über eine große Kreativität, vor und hinter der Kamera ihre Themen umzusetzen und mit einem gewissen Sendungsbewusstsein, ihre Zuschauerschaft zu binden. Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt haben durch den herablassenden, teils arroganten Duktus des Buches und der Reduzierung der Rezeption auf eine kleine Nische von Schmink-, Reise- und Fitnessinfluencern die Aussagekraft ihres Buches verspielt. Schade!
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