Ich fasse es nicht. Dieses Zitat musste ich am Sonntagmorgen als Aufmacher bei spiegel.de lesen. Geäußert von Margrethe Vestager, Vizepräsidentin der EU-Kommission. Was denken diese Politiker sich eigentlich? Nutzen – also fühlen, spüren, leben – sie überhaupt soziale Netzwerke? Es scheint so, als würden sie soziale Netzwerke auf politische Diskussionen reduzieren. In ihrer digitalen Blase passiert wohl auch sonst nichts. Bemerkenswert, dass sie in diesem Zusammenhang auch als einen besonderen Auftrag sieht, „Wissenschaftlern einen besseren Zugang zu Daten geben, um die Auswirkungen von politischer Wahlwerbung erforschen zu können“. Ist klar! Als ob diese Rezeption nicht schon lange zum Alltag an den Hochschulen zählt (übrigens nicht nur in den Fächern Politik und Medienwissenschaft). Kann es sein, dass sie die „sozialen Netzwerke“ nicht gut genug kennt oder sogar lebensfremd ist?!
Die Filterblase der Brüsseler Beamten
Mich interessiert die Offline- und Online-Sozialisierung dieser Person. Ich informiere mich erst mal auf Wikipedia über sie (Achtung: auch soziales Netz). Sie ist 52 Jahre jung, mal gerade 1,5 Jahre älter als ich also. Parteipolitisch engagiert sich die Dänin bei der „Radikalen Linken“. Beruflich hat sie ihr Leben komplett in den Händen des Dänischen Staates verbracht. Das mag ich ja ganz besonders, wenn diese Leute dann irgendwann auch noch politische Ämter begleiten und ihnen – meiner Erfahrung nach – die Erdung zum normalen Leben fehlt. Existenzsorgen finanzieller Art sind ihr also fern. Dann mein Blick in die sozialen Netzwerke: Auf facebook ist sie schon mal nicht mit einem eigenen Profil aktiv. Auf LinkedIn zählt sie gerade mal 86 Kontakte. Groß aktiv ist sie hier allerdings auch nicht. Aber, wie sollte es für einen Politiker anders sein, bei twitter ist sie rege aktiv, hier fühlt sie sich wohl bei den Journalisten und anderen Politikern, postet eifrig und hat fast 300.000 „Follower“. Zumindest weiß sie also, was twitter ist. Aber: twitter ist kein Social Network, sondern ein Mikrobloggingdienst, liebe Frau EU-Kommissarin! Nun also noch mal zurück zu ihrer Aussage: „Soziale Netzwerke sind ein systemisches Risiko für die Demokratie“.
Soziale Netzwerke verbieten, ohne sie zu kennen
Wie kommt die Dame also zu dieser Aussage, wenn sie nicht mal ein soziales Netzwerk selber nutzt? Für mich sind soziale Netzwerke ein Informationsinstrument über regionale und überregionale Ereignisse, ob privat, gesellschaftlich, wissenschaftlich, beruflich oder politisch. Zeitungen, Nachrichtensender, Parteien posten ihre Nachrichten. Ich kann mir meine eigene Meinung bilden. Unter den Posts ist es wie immer: Die einen sind dafür, die anderen dagegen. Manchmal wird der Ton unter den Diskutierenden schärfer, manchmal vergisst der ein oder andere auch seine gute Kinderstube. Ich freue mich und bin bewegt an dem Leben vieler Menschen, die ich die letzten Jahrzehnte kennenlernen durfte, Anteil zu haben. Für mich sind soziale Netzwerke ein immanenter Bestandteil der Demokratie. Hier findet die Meinungsbildung statt. Hier kann ich mich aus erster Hand bei Wissenschaftlern, Unternehmern, Sportler, Politikern etc. erkundigen.
Die Entmündigung der Nutzer
Demokratiefeindliche Staaten sperren soziale Netzwerke, da sie Angst vor ihren Bürgern haben. facebook hat Anfang der 2010er-Jahre den „Arabischen Frühling“ hervorgebracht. Das soziale Netzwerk wurde zum Fenster und Kommunikationskanal in die Welt. Ohne soziale Netzwerke hätte es die Demokratiebewegungen nicht gegeben. Was also will die Europäische Union in Wahrheit? Mehr Transparenz bei den Werbeausspielungen ist zu lesen (Gibt es schon seit langem!). Hassreden und Falschmeldungen vermeiden (Ist die EU-Bubble die Wahrheit?). Die EU-Kommissarin sagt: „Wir als Nutzer müssen einen Zugang zu einer großen Auswahl sicherer Produkte und Dienste im Netz haben“. Okay: Wer definiert sicher? Und ist nicht gerade das Internet ohne derartige staatliche Einmischungen zum größten Wissensspeicher der Menschheit geworden, mal qualitativ hochwertig, mal weniger? Und jetzt will die EU „die unendlichen Weiten“ des Internet kontrollieren?! Mit Audits und externen Kontrollen sollen die sozialen Netzwerke, so die Kommissarin, „überwacht werden“.
Bürokratisierung wurde in Brüssel erfunden
Dass Monopolstellungen vermieden werden müssen, darin besteht für mich kein Zweifel und befürworte die Überlegungen der EU in Sachen Wettbewerbspolitik. Als Microsoft mit dem Internet Explorer Ende der 1990er-Jahre den „freien“ Webbrowsern wie Netscape & Co. das Leben schwer macht, greifen die Brüsseler Wettbewerbshüter auch zu Recht ein. Auch, wenn es Jahre dauert. Marktverzerrungen sollen benannt und reguliert werden dürfen, wie die marktbeherrschende Rolle der Suchmaschine Google und des Marktplatzes Amazon für den freien Wettbewerb zeigt. Die Demokratie sehe ich bei den sozialen Netzwerken nicht in Gefahr, im Gegenteil, sie bilden das passende Korrektiv. Dazu zählt, dass ich diesen kritischen Blogartikel noch veröffentlichen und posten kann, wo ich will. Und das muss auch so bleiben, sonst ist die Demokratie wirklich in Gefahr!
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